Figurative Abstraktion
Der Eintritt der modernen Kunst in die Abstraktion vor rund einhundert Jahren markierte nicht zuletzt einen Versuch ihrer erweiterten Autonomisierung: Kein lebendes Vorbild sollte sie mehr bestimmen, ihre Formen bewegten sich ins Jenseits alltäglicher Ansichten. Hatten künstlerische Figurationen ihre Betrachterinnen zu wie auch immer verschrobenen Identifikationen eingeladen, boten die Abstraktionen dem Blick keine Beruhigung am menschlichen Maß mehr. Wie Guillaume Appollinaire 1912 schrieb: „Die jungen Maler der extremen Schulen wollen pure Malerei machen ... Sie ... sind noch nicht so abstrakt wie sie sein wollen.“ Wie viele Künstler seiner Zeit vermutete Appollinaire die Abstraktion im Jenseits des Realen. Doch während die Malerei sich wie bei Vassily Kandinsky oftmals diesem Jenseits verschrieb, demonstrierten andere Medien, dass die Abstraktion inmitten des Diesseits lag, dass sie immer schon durch das Reale hindurch verlief. Sie zeigten, dass Abstraktion und Autonomie nicht notwendig eine Autonomie der Menschen von den Objekten markierte, sondern auch eine Autonomie der Objekte von den Menschen zu Tage förderte. Die fotografische Abstraktion, die Vortographs, die Schadografien, die Rayogramme, sie alle kartierten materielle Abdrücke des Lichteinfalls jenseits dokumentarischer Beruhigungen. Die Ungegenständlichkeit lag in den Gegenständen, der fotografische befreite den alltäglichen Blick von seiner normalisierenden Einübung und die Dinge von ihren nützlichen Existenzformen. Letztlich war es nicht zuletzt der damalige Ausschluss der Fotografie aus dem Reich künstlerischer Autonomie, der ihre Abstraktion oft drastischer, diesseitiger, folgenreicher ausfallen ließ, als die ihrer malerischen Gegenüber: Der Weg ins Geistige war verschlossen, aber der ins Technische wurde von ihr überhaupt erst ästhetisch ausgelegt. Nur wenige, wie Francis Picabia oder Marcel Duchamp, versuchten zeitgleich innerhalb der autonomen Künste, aus Zeichnung, Malerei, Alltäglichem und Ready-Mades ein ähnliches Verständnis der Abstraktion zu etablieren: eine Abstraktion inmitten der figurativen Körper, eine Abstraktion ihrer abhängigen Formen, nicht eine Abstraktion von ihren abhängigen Formen. Eine Abstraktion, die die Anfänge des 20. Jahrhunderts mit einer präzisen zeitlichen Signatur belegte, eine Ansicht der eigenen Industrialisierung, der eigenen Maschinisierung, eine Ansicht der denaturalisierten Figuren des modernen Lebens.
Auch Harald Popps Aufbauten tragen eine solch technische Zeitsignatur. Einhundert Jahre später ist es jedoch die Digitalfotografie deren Gegenwart anhand ihres Abstraktionsvermögen vermessen wird. Nicht der vermeintliche Naturalismus des Lichteinfalls ist hier zentraler Hebel der fotografischen Abstraktion, sondern ganz im Gegenteil das allgemeine Wissen um dessen grenzenlose Manipulierbarkeit ja um die Möglichkeit seiner vollständigen digitalen Ersetzung. Es sind diese digital denaturalisierten Grundannahme der Betrachterinnen, die Popp in seinen figurativen Abstraktionen zielgerichtet enttäuscht: Seine Bilder zeigen nicht fetischisierte Wiederholungen derjenigen digitalen Formspielereien, die heute jedes Werbebild beherrschen, sondern präsentieren eine analoge Figuration, die von allen Clichés digitaler Gebrauchsästhetik befreit wurde. Denn Popps Abstraktionen verwenden die Abstraktionstechniken des Digitalen, aber nicht dessen Warenästhetik: Die Oberflächen bestimmen das Bild, aber sie sind nicht digital erzeugt, sondern lediglich digital formalisiert. Popp ordnet analoge Objekte zu einer digitalen Form an. Seine Abstraktionen nehmen der Digitalität ihre Warenform und lassen sie als banales Werkzeug zur Befreiung analoger Objektwelten zurückkehren. Popp interessiert sich nicht für die Wiederholung der ordnenden Funktion des Digitalen. In seinen Ordnungen benutzt Popp die digitale Fotografie, um Zuspitzungen der analogen Objektwelt zu inszenieren: Antike Vasen werden nach ihren Farbwerten aufgeschlüsselt, Schreibtischutensilien fügen sich zu abstrakten Malereien, Memorabilia reihen sich zu ethnographischen Sammlungen. Popp verwendet die banalsten Konkretionen der Objektwelt und baut sie zu formalen Serien auf. Seine Abstraktion ist figurativ, sie demonstriert, dass die Dinge selbst letztlich ungegenständlich sind, dass sie sich als Farb- und Formwerte aufschlüsseln lassen, als figurative Abstraktionen.
Und daher sind Popps zweidimensionale Objektbühnen auf ganz konkrete Weise abstrakt. Er komponiert analoge Formen aus Objekten, deren digitaler Wert, deren Datenwert, vernachlässigenswert ist: Beiläufiges, Überholtes, Gefälschtes, Billiges und Kopiertes fügen sich zu Kompositionen zusammen, deren präziser Formalismus ihnen einen figurativen Wert zukommen lässt, der sich von ihrem naturalistischen Nutzen grundlegend emanzipiert. Eine Figuration jenseits digitaler Abstraktion ebenso wie jenseits des menschlichen Maßes, von dessen Spuren Popp seine Objekte befreit. Er baut sie auf und um und präzisiert sie so lange, bis seine Hand an ihnen nicht mehr sichtbar ist: eine digital hergestellte Figuration des Analogen im Zeitalter seiner faktischen digitalen Abstraktion.
Kerstin Stakemeier